Die Glastide
- The Fluxitter

- 26. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Das Meer war still. Nicht das ruhige Plätschern, das Kinder an Sommertagen kennen, sondern ein schwerer, gedämpfter Atem, der sich unter der Oberfläche ausbreitete, als würde die Welt selbst schlafen. Kio stand am Rand der Plattform, seine Füße auf dem glatten Metall, und blickte hinunter. Unter ihm lag das grüne, schimmernde Wasser der tiefen Schichten, und dort unten, verborgen unter Schutt, rostenden Trümmern und umgestürzten Hochhäusern, schlummerte die alte Welt – eine Welt, die längst verloren war.
Er zog seine Atemmaske über Mund und Nase, die Lampe auf dem Helm eingeschaltet, und stieß sich von der Plattform ab. Das Wasser um ihn herum zerschnitt ihn sanft, Blasen stiegen auf wie kleine Kristalle, die das Licht brachen und in alle Richtungen streuten. Es war ein Tanz von Funkeln und Schatten, und darunter verbarg sich alles, was er suchte: Kupferdrähte, alte Chips, verbogene Stahlträger, seltene Relikte aus der versunkenen Erde.

Kio liebte diese Momente. Die Ruhe, die Tiefe, die völlige Stille, die nur vom leisen Rauschen seines Atems und dem Knarren seines Tauchanzugs durchbrochen wurde. Er wusste, dass jede Entdeckung sein Leben verändern konnte – genug Punkte, um sich Nahrung zu sichern, Ersatzteile, oder seltene Werkzeuge, die ihn in der Stadt über Wasser hielten.
An diesem Tag jedoch spürte er etwas anderes. Ein Zittern im Wasser, ein Flimmern, das nicht von Lichtreflexionen stammte. Es war subtil, fast unmerklich, aber deutlich genug, dass seine Hand um den Metallgriff seines Sammelnetzes enger griff.
Dann sah er es.
Zuerst nur eine Umrisslinie, halb verdeckt von Schlamm und rostigen Trümmern. Aber als er näher kam, erkannte er die Konturen: ein Körper, riesig, weiß, majestätisch, wie aus einer anderen Zeit. Ein Wal. Keine Metallstruktur, kein Schiff, sondern ein echtes Wesen, eingefroren in der Tiefe, als hätte es der Ozean selbst konserviert.
Kio starrte. Sein Herz schlug schneller, die Luftbläschen stiegen ihm schneller auf, als sein Verstand versuchte, zu begreifen, was er sah. Unter den Rippen des gewaltigen Körpers glitzerte etwas anderes – Linien, Strukturen, wie Glasfenster, geometrische Formen, eingebettet in die Knochen. Es war, als hätte jemand eine Kathedrale in den Wal gebaut, oder als hätte der Wal selbst sie erschaffen.
Er tauchte hinein.
Die Innenwelt des Wals war still, fast ehrfürchtig. Licht, das von außen durch die Knochen drang, brach sich in den Glasstrukturen, zerstreute sich in Regenbogenfarben und warf kaleidoskopische Muster auf den Boden. Die Luft war schwer, obwohl es keine Luft gab, nur das Wasser, das ihn umgab. Auf dem Boden lagen kleine Statuen, menschliche Figuren, seltsam stilisiert, als wären sie vor Jahrhunderten aus Knochen und Glas geformt worden. In den Wänden waren Zeichen eingeritzt, alte Schrift, die er nicht lesen konnte, doch sie schienen zu pulsieren, als wollten sie ihm etwas sagen: Hört, wenn der Traum erwacht.
Kio spürte ein Zittern, tief im Wasser, das nicht von seinen Bewegungen kam. Es war rhythmisch, wie ein Herzschlag, aber gewaltig, viel größer als er es kannte. Er rückte instinktiv zurück, doch das Herz pochte weiter, und je näher er kam, desto klarer wurde der Klang.
Er tauchte wieder auf, durchbrach die Wasseroberfläche und keuchte. Über ihm wölbte sich der Himmel der schwimmenden Stadt Nereis, die Plattformen glitzerten im Licht des künstlichen Tages. Menschen gingen umher, beschäftigten sich mit ihren täglichen Aufgaben, völlig unbemerkt von dem, was unter ihnen lauerte. Doch Kio wusste, dass er etwas gefunden hatte, das größer war als alles, was die Stadt kannte.
In den folgenden Tagen begann die Welt, sich zu verändern. Das Wasser glühte nachts sanft, als würde es pulsieren, und Fische tauchten auf, die niemand zuvor gesehen hatte. Ihre Augen schimmerten wie kleine Sterne, und ihre Bewegungen schienen einem eigenen Rhythmus zu folgen, fast so, als würden sie den Atem des Wals nachahmen.
Kio kehrte immer wieder hinab. Jede Reise führte ihn tiefer in das Wesen hinein. Er begann, Muster zu erkennen – in den Knochen, im Eis, in den Glasstrukturen. Manchmal hörte er Stimmen, leise, kaum wahrnehmbar, als flüsterten sie direkt in seinen Kopf. Wörter ohne Sprache, Geschichten ohne Form, Visionen vergangener Zeiten.
Die Stadt über ihm reagierte auf diese Veränderungen. Türen öffneten sich von selbst, Glaswände vibrierten leicht, als würden sie atmen, und Bewohner berichteten von Träumen, die seltsamer und intensiver wurden als je zuvor. Kio spürte, dass der Wal nicht nur ein Überbleibsel der Vergangenheit war. Er war lebendig, träumend, und seine Träume berührten die Welt über ihm.
Eines Nachts wagte Kio etwas Neues. Er legte seine Hand auf das Eis, das den Wal umgab, und schloss die Augen. Sofort durchströmte ihn ein Gefühl, das schwer zu beschreiben war – ein Wissen, das älter war als die Stadt, älter als der Ozean. Er fühlte die Bewegungen des Wesens, das langsame Pulsieren seiner Träume, und eine Ahnung, dass alles miteinander verbunden war: die Stadt, das Meer, die Menschen, die Tiere, er selbst.
Als er die Augen öffnete, war alles anders. Die Kathedrale aus Glas leuchtete intensiver, die Farben strahlten in Mustern, die er verstand, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Die Statuen auf dem Boden schienen zu flüstern: „Du bist der Wächter, der Träumer, der Beobachter.“
Von da an verbrachte Kio jede Nacht im Wal, erkundete seine Tiefen, lernte von seinen Träumen. Die Stadt über ihm begann, sich zu verändern. Gebäude wuchsen organisch, Wege verschoben sich, manchmal schien es, als würde die Struktur der Plattformen der Rhythmik des Wals folgen. Menschen bemerkten es kaum, nur gelegentlich sprachen sie von seltsamen Visionen, Träumen, die sich wie Erinnerungen anfühlten.
Kio wusste, dass er an einer Schwelle stand. Irgendwann würde der Wal erwachen. Irgendwann würden seine Träume nicht mehr nur in der Tiefe bleiben, sondern die Welt darüber verändern – unwiderruflich. Und vielleicht würde dann niemand mehr die Grenzen zwischen Realität, Traum und Erinnerung erkennen können.
Er schwamm tiefer als je zuvor. Das Wasser wurde kälter, dichter, und die Glaskathedrale um ihn herum begann zu leuchten, als hätte sie ihn erkannt. In der Ferne sah er ein Licht, das pulsierte wie ein Herz, und er wusste, dass dies kein Ende war, sondern ein Anfang.
Kio öffnete den Mund, um zu sprechen, doch kein Laut kam heraus. Stattdessen hörte er die Gedanken des Wals, sanft, eindringlich, alt und weise: „Willkommen, Träumer. Du hast den Pfad gefunden.“
Er schloss die Augen und ließ sich treiben, wusste, dass er ein Teil von etwas Unermesslichem geworden war. Und als er wieder aufsah, schimmerte die Stadt über ihm im Licht der Glastide, lebendig, atmend, träumend.

Wundervoll.